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Der Mistbauer und die Weiberleut
von Erika Thiel
Es wird mir kaum jemand glauben, es kommt mir selbst fast unglaubwürdig vor, obwohl ich das Bild noch genau in Erinnerung habe: Ich habe noch einmal den Mistbauern gesehen, als er in dem Haus, in dem wir wohnten, den Mist abholte.
In welchem Jahr das war, weiß ich nicht, ich muß noch ziemlich klein gewesen sein. Ich kannte in Zwischenbrücken Häuser in deren Höfen schon Mistkübel der Gemeinde Wien installiert waren, aber in unserem Haus sammelte man den Mist noch in Mistkisten. Dieser Mist wurde, so glaube ich, in Abständen von 14 Tagen abgeholt. Einmal war ich mit meiner Mutter unterwegs, sie hatte sich verspätet, und wir rannten Richtung Leystraße während sie ständig sagte: „Komm, komm, wenn ich um zwei nicht zu Hause bin, fährt der Mistbauer weg und unser Mist bleibt noch zwei Wochen lang daheim steh'n.“
Als wir um die letzte Ecke sausten, winkte meine Mutter, er möge warten, und dann sah ich zum ersten Mal in meinen Leben „ihn“, der unseren Mist abholte. Ein Wagen mit starken Seitenwänden stand in der Einfahrt unseres Hauses, und davor waren zwei große Pferde eingespannt, sodaß wir uns fast gar nicht vorbeidrücken trauten. Ein paar Frauen hoben ihre Mistkisten hinauf, die der Herr Mistbauer oben entleerte. Er brummte was von „Weiberleut“ und „keine Zeit“, die Mama rannte und holte unsere schwere Mistkiste (eine Holzkiste mit Deckel) und hob sie beim Wagen hoch hinauf. Er packte zu, leerte sie und mit „Hüüü!“ fuhr er mit seinen Pferden weiter zum nächsten Haus. Die Nachbarinnen sagten noch etwas von „Glück gehabt, noch erwischt …“, mich aber interessierte das Wort „Weiberleut“, und es enttäuschte mich, daß es meine Mutter einfach mit „Frauen“ übersetzte. „Warum sagt er dann nicht gleich Frauen?“ – „Weil er vom Land ist! Dort spricht man anders.“
Die Lehre aus diesem Nachmittagserlebnis:
1. Wenn der Mistbauer kommt, muß man pünktlich zu Hause sein.
2. Auf dem Lande heißen Frauen „Weiberleut“.
Es war das erste und letzte Mal, daß ich Mistabfuhr auf diese Art erlebt habe; nicht viel später müssen auch bei uns die Mistkübel der öffentlichen Müllabfuhr der Gemeinde Wien aufgestellt worden sein.

Der Mistbauer und die Weiberleut
Verfasst von Erika Thiel
Auf MSG publiziert im November 2009
In: Fleckerlteppich der Erinnerungen, Worte der Kindheit
- Der Beitrag wurde folgenden Regionen und Zeiträumen zugewiesen:
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- Ort: Wien, 20. Bezirk
- Zeit: 1920er Jahre
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